Verdun 1916
"Die Menschheit ist verrückt geworden", schreibt ein französischer Poilu, der vor Verdun gegen deutsche Soldaten kämpft, "am 21.Februar 1916 ist die Menschheit verrückt geworden".
Bilder Ms-Sef
Dieser Soldat kann nur auf diese Weise die schrecklichen Erlebnisse vor Verdun niederschreiben, wo man sich gegenseitig erschossen, zerfetzt, erstochen, verbrannt, erschlagen und mit Giftgas verätzt hat. Den Rest an Leid haben Hunger und Durst, der Dreck, die Ratten und Läuse und die ständig wieder neu ausgegrabenen Leichenteile und der bestialische Gestank besorgt. Hier in Verdun bekamen die Empfindung vom "Vaterland" und die dummen und halbstarken Sprüche wie "Jeder Stoß ein Franzos" oder "Jeder Tritt ein Brit" plötzlich einen anderen Geschmack: "In Verdun hat es nie aufgehört. Es gab jeden Tag Kämpfe. Jeden Tag. Es hat nie aufgehört ..." äußert der ehemalige französische Soldat Marcel Savonet, Jahrgang 1896, seine bittere Erinnerung an die Kämpfe damals. Ausgewachsene Männer schrien buchstäblich nach ihrer Mutter und so viele kamen entweder gar nicht mehr oder als Krüppel heim.
Was dieser französische Soldat empfindet, müssen die Nachwelt und vor allem die jungen Menschen beider Nationen wenigstens in Ansätzen verstehen können, denn diese außerordentliche Entgleisung menschlichen Tuns kann der Verstand heute in seinen Ursachen, seiner perfiden Ausführung und in seinen katastrophalen Auswirkungen gar nicht ganz nachvollziehen.
Eisenpfähle vor dem Fort Douaumont im Nordosten vor Verdun: Hier platzten Tausende von Artilleriegranaten und man sieht, was die Granatsplitter allein mit dem dicken Eisen getrieben haben
So steht das Thema für den Geschichtsunterricht in unseren 8. Klassen an und es ist so umfangreich, so unbegreiflich, dass man sich fragt, wo man mit jungen Menschen beginnen muss, damit der Unterricht letztlich zur Friedensarbeit wird.
So machten wir uns - die Klassen 8a und 8bM - am 13. April 2016 selbst auf nach Verdun, um vor Ort dieser Verirrung der Menschheitsgeschichte nachzuspüren.
Folgende Besuche waren geplant:
Das neu eingerichtete "Memorial du Verdun" - Gedenkstätte und Museum auf dem Schlachtfeld
Das Beinhaus (Ossuaire) und der davor liegende Soldatenfriedhof
Das Zwischenwerk Thiaumont
Das verschwundene Dorf Fleury
Das damals hart umkämpfte Fort Vaux
Hier ein recht genauer Bericht über das Blutvergießen der "Landmarke" Fort Vaux, der den verbissenen Kampf um ein paar Quadratmeter Beton schildert
Das deutsche 38-cm Schiffsgeschütz im Wald von Warphemont bei Duzey
Das Fort Douaumont
Über das Schlachtfeld ist Gras gewachsen, das französische und das deutsche Volk haben sich versöhnt, was im Jahr 1984 seinen offiziellen Ausdruck fand beim Treffen des französischen Staatspräsidenten Francois Mitterand mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Handreichung vor dem Beinhaus bei Verdun.
Heute bemüht man sich im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit und verschiedener Formen des gegenseitigen Jugendaustausches um Verständnis, Nähe und Freundschaft.
Sperrwerk auf dem Schlachtfeld: Die Stangen sind von der Wucht der Einschüsse und Explosionen verbogen und durchbohrt
Weitere Hinweise und Beiträge:
Eine weitere Doku mit gleichem Titel beschäftigt sich mit den Erlebnissen und Eindrücken der Soldaten Karl Rosner auf deutscher und Charles Delvert auf französischer Seite
Mit Jubel in die Hölle ist eine filmische Zusammenfassung, aus deren Titel dieser Widerspruch zwischen euphorischer Erwartung und bitterer Realität im Stellungskrieg vor Verdun spricht
Einen sauber geordneten Überblick über den Verlauf der Schlacht um Verdun bringt diese Doku des deutsch-französischen TV-Kanals ARTE
In dieser Doku werden die Gefühle und Stimmungen der Menschen damals beleuchtet
Natürlich war nicht der Mord am österreichischen Thronfolger die Ursache am Ersten Weltkrieg.
Über die eigentlichen vielfältigen "Anlässe" für den Ersten Weltkrieg gibt diese hervorragend aufgebaute Sendung aus der Reihe "Mit offenen Karten" von Jean-Christophe Victor einen geordneten Überblick.
Sebastian Haffner macht in seinem Buch "Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg" unter anderem folgende Ursachen und "Beschleunigungsmittel" für diesen Krieg wenigstens auf Seiten der Deutschen aus:
Die Abkehr von der Bismarckschen Bündnis- und Ausgleichspolitik, der Schlieffenplan und die Verletzung der territorialen Grenzen Belgiens, was letztlich den Beitritt Englands in den Krieg forderte, der unbeschränkte U-Bootkrieg und das Spiel mit der Bolschewisierung Russlands ("Lenin im Reisezug").
Darüber stehen auch ursächlich der Imperialismus und der Kolonialismus der europäischen Mächte, der Nationalismus, wie es Francois Mitterand einmal besonders betonte, die Führungsansprüche in Europa und der grundsätzliche Glaube an die militärische Bearbeitbarkeit multilateraler Spannungen, was sich etwa in Deutschland mit einer eigenartigen Durchsetzung der Bevölkerung mit militärischem Gedankengut niederschlug. Wenn man vor 1914 auf die Frage, wo man "gedient" habe, nicht antworten konnte, war man gesellschaftlich als Mensch ein "Nichts".
Die Zeiten, in denen man den Krieg verherrlicht hat, sind vorbei.
Sind sie vorbei?
Da fällt einem Günter Kunerts Wort ein: "Als der Mensch unter den Trümmern seines bombardierten Hauses hervorgezogen wurde, schüttelte er sich und sagte: Nie wieder. Jedenfalls nicht gleich."
Wozu lesen wir jedenfalls in den Schulen Carl Zuckmayer, der nach dem Selbstmord seines Freundes Ernst Udet 1941 in seinem Bühnenstück "Des Teufels General" seinen Protagonisten General Harras sagen lässt: "Der Tod auf dem Schlachtfeld - der stinkt, sag ich dir. Er ist ziemlich gemein, und roh, und dreckig. Hast du nicht selbst gesehen, wie sie rumliegen? Was ist da groß dran - und ewig?" So belehrt er den jungen Fliegerleutnant Hartmann: "Du sollst dem Tod widerstehen und ihn überlisten, und ihn hassen wie die Pest."
Interessant sind für uns heute lebende Menschen unbewusst wirkende "Mainstreams" unserer eigenen Geschichte, die in eine kollektive Katastrophe führen können.
Krieg beginnt immer in den Köpfen von Menschen und Wissen und Bewusstsein kann eine Infektion mit gewaltaffiner Propaganda abwehren.
Kann sie das?
Ist es eine Utopie, wenn man erwartet, dass ein informiertes und aufgeklärtes Bürgertum samt der politisch verantwortlichen Elite und der sie interpretierenden Medien kraft seiner Geschichtskenntnisse auch heute solch subtil wirkende Schieflagen kollektiven Denkens erkennen und sich somit vor künftigem Unglück schützen könnte?
Man erinnert sich an der Stelle an ein Bonmot Bill Clintons im Zusammenhang mit Schule und Bildung: "Lehrer sind Optimisten."
Besuch der Mittelschule Großostheim in Verdun
Rainer Bayer